Im Elfenland herrschte Ratlosigkeit, denn der Schutzdrache des Elfenreichs war erkrankt. Nur unter unsäglichen Qualen konnte er sich fortbewegen und war flugunfähig geworden. Wobei das noch längst nicht das Schlimmste war, denn bei fortschreitender Krankheit, hieß es, würde er versteinern. Sein Jammern und Wehklagen war so ohrenbetäubend, dass im Elfenland kaum jemand mehr Ruhe fand. Der Medikus der Elfen diagnostizierte einen Muskelhartspann, der sich im ganzen Körper ausbreitete. Sogleich wurden die Muskeln des Drachen von den Elfen heftig und intensiv bearbeitet. Sie klopften auf ihn ein, massierten sich die Finger wund, doch ihre Kraft reichte nicht aus, um dem Drachen Erleichterung zu bescheren.
Es hieß, an der Wegscheide zwischen den Welten, lebe eine weise Frau, die großes Wissen über Kräuter habe und ihnen raten könne, was bei diesem Leiden Genesung brächte. Die drei Turmelfen erhielten den Auftrag, sich gemeinsam auf den Weg zur Kräuterfrau zu machen, denn es handelte sich schießlich um ihren Schützling und sein Wohlergehen lag ihnen am Herzen. Die Turmelfen begaben sich zum Elbenpfad, dem magischen Weg zwischen den Welten, der zur weisen Kräuterfrau führte.
Sie trafen auf eine alte und eher gebrechliche Frau, die sich auf einen Stock stützte. Doch ihre Augen schienen wach, klar und wissend. Ihr schilderten sie ihr Anliegen und baten sie um Beistand, wie dem Gebrechen des Drachen Abhilfte geleistet werden könne. Die alte Frau blätterte in dicken, verstaubten Wälzern und suchte wohl nach einer Rezeptur. Die Elfen glaubten sich hier eher fehl am Platze und dachten, aufgrund des Alters wäre die Greisin überfordert, ihnen einen Rat mit auf den Weg zu geben.
Im näselnden Ton deklamierte die Kräuterfrau sodann ein seltsames Sprüchlein, nickte ihnen bejahend zu und entliess sie kurzerhand wieder aus ihrer Obhut. Die Elfen zweifelten an der Wirkung des mitgegebenen Reimes, hinsichtlich des augenscheinlichen Zustands der greisen Kräuterfrau. Doch kam es wirklich auf das Aussehen der Kräuterfrau an, die diesen Wankelmut auslösten oder sollten sie lieber auf das Wissen vertrauen, was bereits viele vor ihnen schon taten und nutzten? Mit Sicherheit hatte der Reim seine Richtigkeit, nur sie hatten ihn noch nicht entschlüsselt. Folgendermaßen lautete der Spruch:
Esst Knorpelfrüchte mehr um mehr,
der harte Kern der hilft dann sehr.
Er muss geschruppt und sauber sein,
sonst fängt er sich ein Feuer ein.
Die Kerne hüllt in ein genähtes Tuch
einen Ofen den es wärmt dir sogleich such.
Legt das Kernkissen dann auf die schmerzende Stelle
und es durchströmt ihn die heilende Welle.Hierbei tat sich noch eine weitere Schwierigkeit auf, denn Knorpelfrüchte waren für Elfen sehr umfangreich in ihrer Größe. Bis sie soviele Früchte gegessen hatten, die ein derart riesiges Kernkissen befüllte, war der Drache gewiss bereits versteinert.
Sie hatten zwar schon davon gehört, dass manchmal Menschen sich verwandelten und in geschrumpfter Größe ihr Land besuchten, aber ob dies auch umgekehrt möglich war, hatte noch keine Elfe erprobt. Blieben sie jedoch untätig hier, wären auch sämtliche, im Reich befindlichen Elfen nicht im Stande, die umfangreiche Konsumierung zu schaffen. Folglich gab es nur eines, sie mussten den beschwerlichen Weg zur weisen Kräuterfrau noch einmal hinter sich bringen. Falls es denn möglich sein würde, mit Hilfe der Kräuterfrau sich zu verwandeln, wären sie im Menschenreich zu dritt und könnten mit Sicherheit eine gewaltige Anzahl der Knorpelfrüchte vertilgen, um die heilbringende Wirkung der Kerne, in dem benötigten Ausmaß zur Verfügung zu haben.
Wieder standen sie vor der Behausung der greisen Kräuterfrau klopften und warteten auf Einlass. Als wenn sie auf die Elfen gewartet und gewusst hätte, mit welchem Anliegen die Elfen abermals zu ihr kamen, lächelte sie die drei Turmelfen an, klopfte mit ihrem Krückstock vor jeder dreimal auf den Boden, wies ihnen den Weg und riet zur Eile. Eine nach der anderen verließ hurtig die Behausung und kaum hatten sie den Fuß vor die Tür gesetzt, standen sie auch schon in Menschengröße da. Das Einzige was sie nun von den Menschen unterschied, war ihre altertümliche Aufmachung und der unkonventionelle Haarschmuck.
Allerdings hatte die Alte ihnen etwas verschwiegen, denn sobald sie den Mund öffneten um zu sprechen, trällerten sie das zu sprechende Wort in wohlklingendem Canto.
So versuchten sie von einem Laden zum anderen Knorpelfrüchte zu erstehen, doch niemand wußte was sie damit meinten. Endlich auf einem Wochenmarkt entdeckten sie einen Marktstand, der diese Früchte aufgehäuft zur Auslage hatte, deuteten auf die prallen karfunkelfarbenen Früchte und erfuhren nun, dass sie im Menschenland den Namen Kirsche trugen. Sie kauften Kirschen körbeweise, dankten dem Händler, der ihnen sogar noch für die musikalische Darbietung applaudierte und seinen Lehrburschen anhielt, den trällernden Primadonnen ihre Last zu tragen.
Bis zur Kate der Kräuterfrau brachte der Knabe die geschulterten Körbe, verbeugte sich und ging dann seiner Wege. Sogleich begaben sich die Turmelfen an den Verzehr der vielen Früchte. Die Kerne spuckten sie in einen ledernen Behälter, den sie von der Kräuterfrau erhalten hatten. Bald waren sämtliche Kirschen verspeist und sie konnten ihren Rückweg vorbereiten. Noch war es ihnen ein Rätsel, wie sie alle Kirschkerne transportieren würden, denn in Menschgröße konnten sie das Elfen nicht betreten. Noch einmal spazierten sie in die Stadt und hofften auf hurtige Lösung.
Sie sahen von Pferden gezogene Fuhrwerke und von Menschen geschobene Karren, doch diese technischen Wunderwerke konnten sie in der Elfenwelt nicht bedienen. Kreuz und quer waren sie durch den Ort gelaufen und hatten nach einer Lösung gesucht und nichts gefunden. Sie rasteten gerade auf einer Bank mit Blick auf eine weite Grünfläche, auf der Kinder spielten und hörten wie sich einige von ihnen lautstark um einen Flugdrachen stritten.
Aufs höchste erschrocken stoben die Elfen in die Höhe, blickten zur Seite und hinter sich. Ein Flugdrachen? Die Menschen hatten einen Flugdrachen? Das durfte nicht sein! Doch im selben Augenblick sahen sie wie Kinder an Schnüren gehaltene Papierwunderwerke durch die Luft lenkten. Diese Kunstwerke bezeichneten sie scheinbar als Flugdrachen. Gleichzeitig schien dies die Antwort auf ihr Problem. So ein Flugdrache könnte doch ihre Körbe mit Kirschkernen transportieren. Die streitenden Kinder zogen und zerrten an ihrem Zauberwerk, hatten es dann achtlos auf der Grünfläche liegen lassen und waren heulend auf und davon gelaufen. Bei näherer Betrachtung sahen die Elfen, dass die Holzstäbe, mit denen das bunte Papier gespannt wurde, gebrochen und die dünnen bunten Papierschichten eingerissen waren. Doch dies stellte für sie keine Erschwernis dar. Wenn sie die Bruchstelle mit Elfenstaub bestäubten, würde sie nicht mehr zu sehen sein, und der vormalige Zustand wäre wieder hergestellt. Mit flinken Händen rollten und schnürten sie den Flugdrachen zusammen und eilten zurück zur Kate der Kräuterfrau. Diese erwartete sie bereits gestützt auf ihrem Krückstock, den sie sogleich zum Einsatz bringen wollte.
Doch die Turmelfen benötigten abermals die Hilfe der Kräuterfrau, bevor diese sie zurück verwandelte. Sie baten sie die Körbe mit Kerninhalt einschließlich des Flugdrachens auf ihre Seite, der Elfenwelt zu stellen. Dazu waren die Elfen nicht in der Lage, denn sobald sie einen Fuß in die Kate der Kräuterfrau setzten, würden sie wieder Elfen sein.
Es geschah wie die Elfen es erbaten. Die Kräuterfrau brachte ihnen die Körbe mit Kernen sowie den Papierflugdrachen auf die Wegscheide. Auch die Elfen erhielten, kurz nach dem Betreten der Kate, ihre gewohnte Statur und versuchten gerade die Schnüre des Papierdrachens zu entwirren, als die Kräuterfrau ihnen noch ein zusätzliches Päckchen mit in den Korb legte, das sie mitnehmen sollten. Wind frischte gerade im richten Moment auf und zu dritt zogen sie an den Schnüren des Flugdrachen, hielten ihn konstant in hoher Luft, behingen ihn mit den Körben und eilten zurück in ihr Elfenreich.
Dort hatte man bereits sehnlichst auf die Ankunft der Turmelfen gewartet. Der Reim der Kräuterfrau war in der Gänze entschlüsselt worden. Man wusste nun, dass die Kerne der Knorpelfrucht gereinigt werden mussten, bevor man sie in Kissen einnähen würde. Noch hatte sich aber niemand Gedanken darum gemacht, in was sie eingenäht werden sollten. Tuchbahnen in der benötigten Größe waren im Elfenreich nicht vorhanden. Dennoch, erst einmal waren alle Elfen froh, dass die Ankuft ihrer Schwestern bevorstand. Späher, die man ausgeschickt hatte, um anzuzeigen wann mit der Rückkehr der Turmelfen zu rechnen war, erzählten von einem eigenartigen bunten Vogel, den die Elfen an Schnüren hielten und mit ihnen vorwärts zogen.
Sofort nachdem die Elfen eintrafen, sorgte der Inhalt der Körbe für geschäftiges Treiben. Jede Elfe holte sich einen Kirschkern bearbeitete ihn mit Wasser und Bürste und legte ihn zum Trocknen aus. Die drei Turmelfen nahmen sich des Päckchens an, das ihnen die Kräuterfrau noch beim Abschied in den Korb legte. Aus dem Päckchen wickelten die Turmelfen die drei Kleider, die sie in Menschengestalt getragen hatten. Nicht nur Umsicht schien eine Gabe des Alters zu sein, das mussten die Elfen nun auch erkennen. Als Kleider würden sie diese nicht mehr gebrauchen können, aber als Kissenhülle für die Kirschkerne waren sie besonders gut geeignet.
Alle Elfen halfen eine große Kissenhülle zu erstellen. Nähten in einzelnen Kammern die Kirschkerne ein, damit sie nur nicht verrutschten. Der Elfschmied schürte den Ofen und das riesige Kissen wurde zum Erwärmen auf den Ofen gelegt. Als es gut durchwärmt war, flatterten alle Elfen herbei, zogen das Kissen an den angenähten Schlaufen hoch und schwebten zu ihrem Flugdrachen, dessen Schwanzspitze bereits versteinert schien. Sie hüllten ihn in das Kirschkissen ein, legten noch viel Laub darüber, was die Wärme halten würde und warteten auf Genesung des Drachen.
Ein wohliges Grunzen war sogleich zu vernehmen. Woraufhin die Elfen die Prozedur noch einige Male wiederholten. Immer wieder erwärmten sie das Kirschkernkissen und wickelten es um ihren Drachen, dem es nun endlich wieder wohl erging. Bald bewegte er sich schmerzfrei und nach einigen Tagen konnte er auch wieder fliegen. Die warmen Kirschkerne hatten ein Wunder bewirkt. Zwar war seine Schwanzspitze abgebrochen, aber vielleicht wuchs diese ja eines Tages wieder nach.